Künstliche Intelligenz erfolgreich bei der Berechnung der Insulindosis für Kinder mit Typ 1 Diabetes

Sechsmonatige internationale Studie mit Beteiligung des Kinder- und Jugendkrankenhauses AUF DER BULT Hannover belegt Gleichwertigkeit mit ärztlicher Dosierungsempfehlung

Etwa ein Kind von 600 ist in Deutschland von einem Typ-1-Diabetes betroffen und ist zur Blutglukosekontrolle auf lebenslange Gabe von Insulin angewiesen. Über die Hälfte davon setzen dazu inzwischen Insulinpumpen und im Unterhautfettgewebe sitzende Glukosemessfühler (kontinuierliche Glukosemessung, CGM) ein. Die komplexe Anpassung der Dosis auf der Basis der gemessenen Werte an Nahrungsaufnahme, körperliche Bewegung und Gesundheitszustand müssen die Menschen mit Diabetes aber nach ärztlicher Empfehlung selbst vornehmen. In der aktuellen Ausgabe der renommierten Zeitschrift „Nature Medicine“ berichten Forscher aus sieben  spezialisierten Kinderdiabeteszentren des NextDREAM-Consortiums* aus fünf Ländern über eine sechsmonatige Studie mit 108 Kindern und jungen Erwachsenen mit Typ 1 Diabetes im Alter von 10 bis 21 Jahren. Sie wurden nach dem Zufallsprinzip in zwei Gruppen intensivierter Betreuung zugeordnet: eine Gruppe erhielt alle drei Wochen eine Dosisempfehlung von ihrem Diabetesarzt, die andere Gruppe von einem auf künstlicher Intelligenz basierenden Entscheidungsunterstützungs­system (AI-DSS). Dabei war nach sechs Monaten kein signifikanter Unterschied bezüglich der Zeit im Glukosezielbereich oder den gefährlichen Unterzuckerungen zwischen der Beratung durch den Diabetesspezialisten oder durch AI-DSS nachweisbar.

Weltweit sind die Behandlungsergebnisse beim Kinderdiabetes noch nicht zufriedenstellend. Auch in Deutschland erreichen weniger als die Hälfte aller Kinder das empfohlene Stoffwechselziel. Ob dies an mangelnder Zeit oder mangelnder Expertise bei der Analyse komplexer Glukosedaten liegt, ist unklar. In der Studie zeigten nach 6 Monaten beide Gruppen eine vergleichbare Verbesserung der Stoffwechseleinstellung gemessen am sogenannten HbA1c-Wert (von einem durchschnittlichen Ausgangswert von 8.4%: künstliche Intelligenz - 0.32%, intensive ärztliche Betreuung - 0.19%).  „Das bedeutet nicht, dass eine Betreuung durch das multidisziplinäre Diabetesteam jetzt überflüssig wird“, betont Prof. Dr. Thomas Danne, Leiter des Diabetes-Zentrums am Kinder- und Jugendkrankenhaus AUF DER BULT. „Die künstliche Intelligenz kann die Diabetes-Teams sicher und effektiv unterstützen und dadurch Ressourcen für die dringend benötigte psychosoziale Unterstützung der Familien schaffen“, betont Danne. Insgesamt traten 20 unerwünschte Ereignisse im Zusammenhang mit Diabetes während der Studie ein, darunter zwei schwere Unterzuckerungen und eine diabetische Ketoazidose, beides in der ärztlichen Studiengruppe.

Entscheidungsunterstützungssysteme haben das Potenzial eine virtuelle Diabetes-Expertenklinik zu schaffen, die häufigere Insulinanpassungen zwischen den Klinikbesuchen erleichtert. Diese Systeme können auch in Verbindung mit telemedizinischen Ansätzen genutzt werden, um Expertenwissen zu vermitteln, und um die mit klinischen Besuchen verbundenen Kosten (z.B. Arbeitsausfall und/oder Schulausfall) zu senken.  „Kindermedizin betrifft immer die ganze Familie. Das erhöht die Anforderungen an die Betreuung massiv“ ergänzt Prof. Dr. Olga Kordonouri, Kinderdiabetologin und Ärztliche Direktorin am Kinder- und Jugendkrankenhaus AUF DER BULT. „Auch wenn die Unterstützung durch künstliche Intelligenz zeigt, wie gerade in der Kindermedizin auf Effizienz geachtet wird, bleiben die systemischen Unterdeckungen in der Finanzierung spezialisierter Kindereinrichtungen ein dringliches Problem.“ Darüber hinaus bietet das AI-DSS die Möglichkeit, die Versorgung über die verschiedenen Gesundheitssysteme hinweg zu standardisieren und sicherzustellen, dass alle Menschen mit Typ-1-Diabetes eine qualitativ hochwertige Versorgung erhalten, selbst wenn sie in abgelegenen Gebieten leben oder von einem Diabetes-Team betreut werden, das wenig Erfahrung mit der CGM-Interpretation oder der Insulinpumpentherapie hat.

*Das NEXTDREAM Consortium ist ein Zusammenschluss der Kinderdiabeteszentren des Nationalen Zentrums für Kinderdiabetes, Tel Aviv, Israel; Abteilung für Kinderendokrinologie, Universitäts-Kinderklinik Ljubljana, Slowenien; Joslin Diabetes Center, Harvard Medical School, Boston, USA; Barbara Davis Center für Kinderdiabetes, Denver, USA; Abteilung für Pädiatrie, University of Florida, Gainesville, USA, Pädiatrische Endokrinologie & Diabetes, Yale School of Medicine, New Haven, USA und Diabetes Zentrum, Kinder und Jugendkrankenhaus AUF DER BULT, Hannover, Deutschland

Literatur

Nimri R, Battelino T, Laffel L, Slover RH, Schatz D, Weinzimer SA, Dovc K, Danne T, Phillip M, NextDREAM Consortium. Insulin dose optimization using an automated artificial intelligence-based decision support system in youths with type 1 diabetes NATURE MEDICINE | VOL 26 | SEPTEMBER 2020 | 1380–1384. https://doi.org/10.1038/s41591-020-1045-7

Danne T, Kapellen T. Diabetes bei Kindern und Jugendlichen. Deutscher Gesundheitsbericht Diabetes 2020. S.124-141
https://www.deutsche-diabetes-gesellschaft.de/fileadmin/user_upload/06_Gesundheitspolitik/03_Veroeffentlichungen/05_Gesundheitsbericht/2020_Gesundheitsbericht_2020.pdf